Houidah W. (Name geändert) kommt aus dem syrischen Deir ez-Zor. Die Provinzstadt an den Ufern des Euphrats war vor wenigen Jahren blühendes Zentrum im Osten von Syrien. Im Sommer 2015, nach vier Jahren anhaltender Konflikte und Bombardements, klettern die rund 300.000 verbliebenen Bewohner über graue Ruinen und staubige Schutthaufen. Eingekesselt zwischen Assads Truppen und anderen Kämpfenden ist die humanitäre Lage katastrophal: Es gibt kein sauberes Wasser, kaum Essen und keine medizinische Versorgung. Anfang August 2015 schafft das Assad-Regime schließlich einen schmalen Korridor, aus dem Frauen, Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren hinausgelangen. Darunter auch Houidah mit ihren drei Töchtern Rabi (14), Qamar (5) und Rana (3). Sie fliehen zu Fuß in die 60 Kilometer entfernte Türkei. Von da geht es mit dem Schlauchboot nach Griechenland, weiter über die Westbalkanroute, bis sie Ende Oktober 2015 in Deutschland ankommen. Das erste Mal seit Beginn der gewaltsamen Konflikte in Deir ez-Zor 2011 fühlen sie sich wieder sicher.
Auch Houidahs Mann Omar mit Tochter Safiye (13) und Sohn Amir (9) schaffen wenig später den Weg über die syrische Grenze. Amir ist zuckerkrank und braucht dringend Medikamente. Aber ihr 15-jähriger Sohn Ahmad (Name geändert) darf Al Rakka nicht verlassen. Er soll für eine der rivalisierenden Gruppen im Land kämpfen. Gemeinsam mit ihren noch in Syrien lebenden Brüdern gelingt es Houidah, Ahmad von der Gruppe, die ihn festhält, freizukaufen. Er kann nach Damaskus fliehen und vorerst bei Houidahs Familie unterkommen. Aber Lebensmittel sind knapp und das Leben in Syrien ist schwer und gefährlich. Wenn Houidah W. mit Ahmad telefoniert, weint er.
Für Houidah ist das Mobiltelefon lange Zeit die einzige Möglichkeit, um mit ihrem Sohn in Syrien und ihrem Mann in Griechenland in Kontakt zu bleiben. Beim DRK-Suchdienst findet die Mutter Hilfe. Ein Übersetzer hat ihr erzählt, dass der Suchdienst vom Roten Kreuz nicht nur Menschen bei der Suche nach Vermissten hilft, sondern auch Familien zusammenführt. Kurz darauf sitzt sie in Stefanie Lewis´ Büro in der Geschäftsstelle des DRK-Landesverbandes Brandenburg. Die Leiterin des Suchdienstes, Stefanie Lewis, will ihr keine falschen Hoffnungen machen. Aus Erfahrung weiß sie, dass die Chancen für einen Familiennachzug mit Houidahs Aufenthaltstitel nicht gut stehen. Houidah ist eine starke Frau. Sie lacht viel. Aber die erste Zeit in Deutschland war für sie nicht leicht. Als sie anfängt, Stefanie Lewis ihre Geschichte zu erzählen, davon, dass sie sich große Sorgen um ihren Sohn Ahmad macht und ihr Mann mit zwei Kindern in Griechenland feststeckt, rollen ihr viele Tränen über die Wangen.
Kurz nach ihrem ersten Treffen mit Houidah W. beantragt Stefanie Lewis bei der Potsdamer Ausländerbehörde eine Vorabzustimmung zur Beantragung eines Visums aus humanitären Gründen, ihre einzige Chance. Es folgen zahlreiche Ämtergänge und Telefonate. Houidah kommt jede Woche in Stefanie Lewis‘ Büro, um das weitere Vorgehen zu besprechen. „An einem Tag war die dreijährige Rana so erschöpft, dass sie auf dem Schreibtisch eingeschlafen ist“, erzählt Lewis.
Zuerst sieht alles ganz gut aus. Die Ausländerbehörde Potsdam erteilt ihre Vorabzustimmung, dass sie für den Unterhalt von Ahmad aufkommt. Um Ahmad nach Deutschland zu holen, brauchen Sie einen Termin bei der Deutschen Botschaft in Beirut. Mitte Oktober kommt die Absage: Für subsidiär Schutzberechtigte ist der Familiennachzug bis März 2018 ausgesetzt. Stefanie Lewis lässt sich nicht beunruhigen. „Nach dem weiten Weg, den wir schon gegangen sind, habe ich die Absage einfach nicht akzeptiert“, sagt sie. Lewis schickt eine lange Erklärung an das Auswärtige Amt. Danach vergehen weitere Tage und Wochen mit Warten.
Anfang Dezember kommt ein Anruf der Deutschen Botschaft aus Beirut. Die Dame am Telefon bestätigt einen Termin für Ahmad. Er soll am 15. Dezember 2016 nach Beirut kommen. Kurz darauf stellt Lewis fest, dass Ahmads Name in den Grenzdokumenten falsch geschrieben ist. Die Dokumente sind schon an der Grenze. Ahmads Termin muss verschoben werden. Wenige Tage später bestätigt die Botschaft für den 23. Dezember einen neuen Termin. Für Houidah ist die Ungewissheit kaum auszuhalten. Ahmad muss sehr früh aufstehen und mit dem Taxi die syrische Grenze überqueren, ein nicht ungefährlicher Weg. Sie schreibt mit Stefanie Lewis fast stündlich SMS.
Ahmad erreicht die Deutsche Botschaft pünktlich zum Termin. Am 16. Januar 2017 darf er ausreisen. Wenige Stunden später kann Houidah ihren Sohn nach eineinhalb Jahren wieder in die Arme schließen. Anfang Februar dürfen auch Omar, Amir und Safiye über das Dublin-III-Verfahren nach Deutschland reisen, das Lewis‘ Kollegin Christiane Uhlig in die Wege geleitet hat. Als wir Houidah fragen, was ihr in all der Zeit ohne ihre Familie Kraft gegeben hat, zögert sie nicht lange: „Allah und Stefanie!“.