Es gibt fast keine Familie in Deutschland, die vom Krieg nicht betroffen ist. Auch in meiner Verwandtschaft kehrte ein Sohn nicht heim - mein Cousin Sebastian Eitermoser.
Oft saß meine Tante am Fenster und wartete auf die Nachricht, dass ihr Sohn den Krieg überlebt hätte. 1952 berichtete ein Heimkehrer, dass Sebastian 1944 in einem Lager nördlich von Moskau gestorben sei. Das Hoffen musste der harten Realität weichen, den letzten Sohn sinnlos verloren zu haben, nachdem bereits zwei Nachkommen im Kindesalter gestorben waren. Ich durfte in dieser Familie aufwachsen, und heute wird mir bewusst, wie sehr ich an Stelle des eigenen Sohnes große Wertschätzung genoss.
Mit einem Schreiben vom 13. Januar 1997 an meine Cousine Rosalie Asböck, Schwester von Sebastian durch Adoption, erfuhren wir vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, dass Sebastian im Gebiet von Jaroslawl am 26. Februar 1945 gestorben war. Weitere Angaben konnten nicht gemacht werden. An diesem Januar-Tag begann ich, mich für alles zu interessieren, was mit diesem jungen Mann zusammenhing, zumal ich aus Erzählungen über viele Einzelheiten in seinem jungen Leben Bescheid wusste. In etlichen Anfragen an Nachforschungsbehörden ersuchte ich um Unterlagen aus dieser Zeit. Mit den Jahren konnte ich den Abschnitt von der Einberufung am 16. Dezember 1942 bis zur Abkommandierung 1943 nach Rumänien rekonstruieren.
Weitere Nachfragen blieben ergebnislos. Nach einer Russlandreise im Jahr 2002, die durch Jaroslawl und Rybinsk führte, machte ich mich intensiver mit diesem Gebiet vertraut. Da ich mit der Suche der Grabstelle von Sebastian immer noch keinen Erfolg hatte und die deutschen Archive erschöpft schienen, ergründete ich die Webseiten mit den wenigen Begriffen, die mir weiterhelfen könnten.
Ich schickte mehrere E-Mails nach Jaroslawl und Rybinsk und bekam im April 2003, zwei Monate später, eine Antwort von Ekaterina Iwanowskaja aus Jaroslawl, einem Mitglied der dortigen evangelischen Gemeinde. Sie interessierte sich sehr für mein Anliegen und bot mir ihre Hilfe an. So entwickelte sich ein reger Schriftverkehr.
Frau Iwanowskaja besuchte in ihrem Wirkungskreis mehrere Archive, die Unterlagen aus der Zeit des Krieges besitzen sollten. Nach der russischen Gesetzeslage sind aber alle Archive nur mit Zustimmung der zuständigen Behörde zu betreten. So stellte ich in deutscher Sprache einen Antrag, den Frau Iwanowskaja ins Russische übersetzte. Ein Glückszufall wollte es, dass der Abgeordnete der Staatsduma, der Bundesversammlung der Russischen Föderation, Alexander Sisow, die russische Übersetzung und mein Original in die Hände bekam. Sisow unterschrieb sofort mehrere Schriftsätze, so dass Frau Iwanowskaja alle verfügbaren Dokumente, die über den Verbleib meines Cousins Auskunft geben könnten, in meinem Namen sichten und kopieren durfte.
Es setzte sich ein Stein auf den anderen. Das Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation in Moskau verwies auf das staatliche Militärarchiv, und dieses stellte eine umfangreiche Dokumentation zur Verfügung. Diese Aufzeichnungen begannen am 3. September 1944, als Sebastian sich in der Stadt Baken/Rumänien den russischen Truppen ergab und gefangen genommen wurde. Das Dokument beschrieb auch den Weg in das Lager 259/Rybinsk bei dem Dorf Malachowo, 300 Kilometer nordöstlich von Moskau.
Kurze Zeit später folgten genaue Lagepläne des Friedhofs. Akribisch ist über jedes Grab Buch geführt worden. Der Friedhof war in Quadrate eingeteilt mit fortlaufenden Grabnummern. Aufgrund der unzähligen Quadrate ist anzunehmen, dass viele Soldaten hier die letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Ende Juli 2003 traf eine weitere umfangreiche Dokumentation vom staatlichen Archiv im Oblast Jaroslawl ein, die Sisow aus den alten Aufzeichnungen hatte anfertigen lassen. Ein erschütternder Text brachte Gewissheit, dass Sebastian Eitermoser am 26. Februar 1945 im Lager 259 in Malachowo bei Rybinsk verstorben war. In der Kriegsgefangenenliste steht, dass er im Grab 12 im Quadrat 2 beerdigt worden war und die Grabanlage nach 25 Jahren einer anderen Bestimmung zugeführt worden ist.
Das Informationszentrum der Innenverwaltung in der Respublikanskaja Straße teilte später mit, dass eine Exhumierung nicht möglich sei. Anfang August traf ein detaillierter Brief von der Administration der Stadt Rybinsk ein. Oberbürgermeister Eugen Nikolayewitsch Sdwischkow ließ eine Vermessung durchführen und eine Zeichnung des Geländes anfertigen. Die Grablage von Sebastian war genau identifiziert worden. Nach einer für Russland notwendigen Vorbereitung reisten meine Frau und ich im Juli 2004 nach Russland, um Sebastian die letzte Ehre zu erweisen. In Moskau bestiegen wir den Zug, der uns nach Jaroslawl brachte. Am nächsten Tag fuhren wir in Begleitung von Ekaterina Iwanowskaja nach Rybinsk. Dort erzählte man uns behutsam die Geschichte des Lagers und die Zusammenhänge. Man hatte die Kriegsgefangenen in Arbeitsgruppen eingeteilt
und sie unter anderem Häuser bauen lassen. Als besondere Leistung ist der Bau der Schleusenanlage an der Wolga bei Rybinsk zu werten. Später an diesem Tag haben wir diese Anlage angeschaut wie auch die Häuser, die sich heute noch deutlich von den anderen abheben, was die Qualität und den Baustil betreffen. Die Behörden in Rybinsk und Jaroslawl lassen gerade die Bausubstanz wieder herrichten.
Wir kamen in das Dorf Malachowo, das aus wenigen Häusern besteht. In der Ferne sahen wir auf einem Hügel ein großes Kreuz aus Eisen und Messing, das sich aus hohem Gras hervorhob. Unsere Führerin brachte uns auf den Hügel. Ein erschütternder Augenblick, an dem Ort zu stehen, nach dem wir so lange gesucht hatten. Man hielt inne. Der unsinnige Krieg, das Leiden der Menschen, der Tod und die vielen Begegnungen, die das Auffinden der Begräbnisstätte erst möglich gemacht hatten, erfüllten die Gedanken.
Nach der internationalen Kriegsgefangenenkonvention durfte der Friedhof 25 Jahre nicht als Acker oder Baugrund genutzt werden. Der Hügel, auf dem wir standen und den das Eisenkreuz krönt, wurde nach dieser Schutzzeit, Anfang der 1980er Jahre, aus einem großen Teil des Friedhofs aufgeschüttet, die Gebeine der verstorbenen Soldaten wurden an dieser Stelle aufgetürmt und wieder mit Erde zugedeckt. Unsere Führerin ging mit uns einen Weg, der an der alten Lagermauer entlang führt und an einer Säule mit einem uralten Gitter endet. Wir waren an der Stelle, die die Pläne der Ministerien und der Stadtverwaltung von Rybinsk auswiesen: Grab 12 im Quadrat 2. Keine Kreuze kennzeichnen die Begräbnisstätten, es wären zu viele. Auch hier legten wir Blumen nieder, Blumen für Sebastian und für alle, die hier ruhen und vielleicht nur noch nicht gefunden worden waren. Mit dem beruhigenden Gefühl zu wissen, wo mein Cousin seinen letzten Frieden gefunden hat, verabschiedeten wir uns von der Familie Iwanowskijs, die so viel für uns getan hat und von einem Land, das uns in seinen Bann gezogen hat.