Auf der Flucht spurlos verschwunden

Familie A. und DK Präsidentin Gerda Hasselfeldt

An Weihnachten 2013 kommen Yusif und Gule A. mit ihren beiden kleinen Kindern als Flüchtlinge aus Syrien in einem Auffanglager in Bielefeld an. Drei Wochen zuvor sind sie zu Fuß, per Auto und Lastwagen aus ihrem Dorf in Nordsyrien geflüchtet. Die Familie beantragt Asyl in Deutschland.

Yusif und Gule A. sind kurdische Jesiden, eine verfolgte Minderheit, die in Nordsyrien, in der Türkei und in Irak lebt. Schon in den 1960er Jahren hatten Teile der Familie aus der Türkei nach Syrien fliehen müssen; in Syrien war Familie A. daher nie eingebürgert worden und Yusif und Gule A. haben somit auch keine Pässe. Papiere, die belegen, dass sie aus Syrien kommen, können sie demnach nicht vorlegen. Ihr Heimatdorf wurde zwischenzeitlich völlig zerstört, die früheren Bewohnerinnen und Bewohner vertrieben oder getötet. Niemand aus ihrer Vergangenheit ist daher heute noch dort für die Familie erreichbar. Ohne entsprechende formale Nachweise über ihre Herkunft hat aber ein erneuter Asylantrag in Deutschland keine Aussicht auf Erfolg.

Damals, in ihrer Heimatstadt, in der Nähe der Grenze zur Türkei, kamen – so berichten sie – seit 2013 immer öfter Soldaten ins Dorf. Sie wollten, dass sich die Männer aus dem Dorf dem Kampf gegen die syrische Armee anschließen. Sie verlangten Geld und Lebensmittel, um ihre Armee zu unterhalten. “Jedes Mal nahmen sie uns ein Schaf weg”, erinnert sich Gule A. Nachdem der Vater von Yusif A. nach einer Auseinandersetzung mit den Soldaten stürzte und sich dabei so schwer verletzte, dass er starb, fühlt sich die Familie in Syrien nicht mehr sicher. Familie A. beschließt, zusammen mit der verwitweten Mutter von Yusif A. sowie seinem Bruder, dessen Frau und Kindern, zu fliehen.

"Wir waren Bauern" erzählt Gule A. "Wir hatten Kühe, Schafe, Ziegen und haben Landwirtschaft betrieben. Aber die Gefahr wurde uns nun zu groß. Wir haben alles verkauft, das Geld in die Flucht gesteckt und sind geflohen.” Kurz vorher hatten auch bereits die Cousine von Gule A. und ihr Ehemann ihr Zuhause dort verlassen. Die letzte Nachricht von ihnen kam 2013 aus Griechenland.

Die beiden Brüder mit ihren Familien und ihre Mutter wollen über die grenznahe Stadt Raʾs al- ʿAin in die Türkei und von dort aus nach Deutschland, aber auf der Flucht werden sie in der Türkei getrennt – von ihrem ersten Zufluchtsort in der Türkei aus steckt man sie in verschiedene Lkw, dann verliert sich die Familie aus den Augen, bis heute.

"Die Fluchthelfer haben gesagt, wir treffen uns wieder", sagt Gule A. "Aber das war nicht so. Seitdem wissen wir nicht, was mit den beiden Familien passiert ist." Auch noch in Bielefeld warten sie wochenlang vergeblich auf die Ankunft der Mutter von Yusif A. und auf seinen Bruder mit Familie, die sie alle seit der Flucht letztmalig in der Türkei gesehen haben.

Seitdem sucht Familie A., sowohl nach der Cousine von Gule A. als auch nach dem Bruder von Yusif A. Sie hatten keine Telefonnummern, keine E-Mailadressen und haben nie wieder etwas von ihnen gehört. Das Einzige, was sie von ihnen wissen, ist, dass sie auch nach Deutschland wollten.

Im Frühjahr 2014 wird Familie A. der Stadt Königswinter zugewiesen und zieht dort in eine Flüchtlingsunterkunft. Anfang 2015 werden sie in einer kleinen Wohnung untergebracht, weil die jüngere Tochter einen schweren Herzfehler hat. Über ein deutsches Ehepaar aus Königswinter bei Bonn, das Familie A. seit Anfang 2015 ehrenamtlich unterstützt, erfahren sie vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes und stellen dort im Januar 2017 eine Suchanfrage. Dabei geben sie ihre Namen, ihren Heimatort, ihren Wohnort, ihr Geburtsdatum und alle Daten der Gesuchten an.

Der DRK-Suchdienst erhält jedes Jahr hunderte, insgesamt über tausend solcher Anfragen. Er nimmt seine Arbeit auf und stellt zunächst eine Anfrage an das Ausländerzentralregister. Dort werden ausländische Bürgerinnen und Bürger sowie Asylbewerber registriert. Aber hier gab es bislang keinen Treffer, die Vermissten sind bis heute nicht dort gemeldet. Der DRK-Suchdienst sucht auch über andere Rotkreuz-Gesellschaften, z.B. entlang der sogenannten “Balkanroute”, ob Vermisste dort registriert wurden. Aber das ist auch keine Spur im Fall der Familie A.

Seit 2013 sammelt das Rote Kreuz auch Namen und Daten von Flüchtlingen, die den Suchdienst um Hilfe bitten, vor allem in oder auf dem Weg nach Europa. Manche Suchende veröffentlichen ihre Suche auch mit ihrem eigenen Foto auf der Website Trace the Face des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), www.tracetheface.org. Aber viele bleiben lediglich in der Datenbank registriert. Heute ist es eine Datenbank mit zehntausenden Namen, sowohl von Suchenden als auch von Gesuchten. Aber auch hier sind die Vermissten von Familie A. nicht zu finden.

Doch Gule A. und ihr Mann geben die Hoffnung nicht auf. Seit einiger Zeit haben Yusif und Gule A. ihr Foto auf der Trace the Face-Website veröffentlicht. "Ich suche meine Familie" steht da. Sie hoffen, dass ihre Angehörigen die Bilder sehen werden und sie erkennen. Ein Klick darauf und eine Nachricht wird automatisch an den DRK-Suchdienst gesendet. Dieser kann dann auf Wunsch des Gesuchten eine Verbindung zwischen den Suchenden und den Gesuchten herstellen.

Ab 2013 hatten Gule und Yusif A. zunächst in Deutschland eine Aufenthaltsgestattung. Nach ihrer Flucht müssen sie nachweisen, dass sie tatsächlich Jesiden aus Syrien sind. Bei dem Versuch, ihre Herkunft unter diesen schwierigen Umständen zu belegen, kommt es u.a. auch entscheidend auf ein Sprachgutachten an. Dieses war auf Basis einer Sprachaufzeichnung während der üblichen Befragung von Asylbewerbern erstellt worden. Danach sei die gesprochene Mundart von Familie A. nicht dem Bereich der angegebenen früheren Wohnumgebung, sondern eher den GUS-Staaten zuzurechnen. Ende 2016 ist ihr Asylantrag abgelehnt worden und damit hat die Familie jetzt nur noch einen Duldungsstatus.

"Ich spreche, wie ich spreche. Wie meine Eltern und meine Großeltern. Sie kamen aus der Türkei und klar haben sie einen anderen Akzent gehabt als ihre Nachbarn später in Syrien. Aber dafür kann ich nichts." sagt Gule A. Wagt sie einen Blick in die Zukunft? Die Familie wünscht sich nichts mehr, als weiterhin in Sicherheit in Deutschland zu bleiben, so dass ihre Kinder hier vielleicht irgendwann eine Ausbildung machen können.