In eigener Sache
Leitungswechsel in der Suchdienst – Leitstelle im DRK-Generalsekretariat
Frau Dziwoki, 28 Jahre sind Sie beim DRK-Suchdienst tätig, 23 Jahre lang in Führungsverantwortung. Woran erinnern Sie sich besonders?
Dziwoki: Für mich sind die Begegnungen mit den Menschen die stärksten Erinnerungen. Vom direkten Kontakt mit unseren Klientinnen und Klienten profitieren ja meist eher die DRK-Suchdienst-Beratungsstellen und nicht direkt wir in der DRK-Suchdienst-Leitstelle. Aber manchmal gab es Fälle sowohl der Suche als auch der Familienzusammenführung, die politisch heikel oder von besonderer Bedeutung waren, die wir hautnah begleitet haben.
Wie z.B. die Anfrage einer Frau, die in der ehemaligen DDR mit einem ausländischen Studenten verheiratet gewesen war, der aber in den 1960er Jahren plötzlich in sein Heimatland zurückkehren musste. Sie hatte seitdem immer wieder versucht, den Kontakt zu ihm herzustellen, aber das war ihr wegen politischer Hindernisse nie gelungen. Über 40 Jahre später konnten wir ihr dabei helfen. Ich war auch erstaunt, dass es nach so langer Zeit immer noch von beiden Seiten den Wunsch nach einem Wiedersehen gab. Das konnten wir dann ermöglichen, und es hat mich sehr bewegt und mir gezeigt, was der Suchdienst als Teil des internationalen Suchdienst-Netzwerks der Rotkreuz-Rothalbmond-Bewegung bewirken kann, und was dies für die Familien bedeutet. Daran werde ich mich stets erinnern.
Sie haben am 1. August 1996 Ihre Arbeit beim DRK-Suchdienst begonnen. Hat diese sich seitdem verändert?
Dziwoki: Es hat sich sehr viel verändert. Mitte der 1990er Jahre haben noch sehr viele Aussiedler und Spätaussiedler Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland begehrt und der DRK-Suchdienst stand und steht weiterhin auf allen DRK-Verbandsebenen den Familien beratend zur Seite. Das behördliche Aufnahmeverfahren nach dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) wurde nach dem Fall des “Eisernen Vorhangs” mehrfach novelliert und die gesetzlichen Voraussetzungen, die die Familien zu erfüllen haben, um in Deutschland aufgenommen zu werden, wurden kontinuierlich verschärft. Wir haben damals unsere Suchdienst-Beraterinnen und -Berater intensiv geschult, um den Familien, die sich Hilfe suchend an uns wandten, die bestmögliche Beratung zu den rechtlichen Voraussetzungen einer Aufnahme nach dem BVFG geben zu können.
Heute liegt der Schwerpunkt bei der Beratung zum Familiennachzug zu Schutzberechtigten aus Afghanistan, Syrien und aus vielen Regionen der bewaffneten Konflikte Afrikas. Und auch in diesem Bereich der DRK-Suchdienstarbeit finden intensive Schulungen der Beratenden statt, die vor allem die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen zum Inhalt haben, damit getrennte Angehörige von in Deutschland lebenden Schutzsuchenden wieder vereint als Familie zusammenleben können.
Zu Beginn meiner Tätigkeit beim DRK-Suchdienst haben wir auch große Datenbestände zu deutschen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten aus Militärarchiven der ehemaligen Sowjetunion erworben. Aufgrund dieser Datenbestände konnten wir umfangreiche Auskünfte zu den Schicksalen von Vermissten des Zweiten Weltkriegs erteilen und können es noch bis heute. Diese betreffen nicht nur das genaue Sterbedatum und den Sterbeort der Betroffenen, sondern auch noch die verschiedenen Stationen in der Kriegsgefangenschaft oder Internierung, die sie bis zu ihrem Tod durchlaufen haben. Bis Anfang der 1990er Jahre haben wir noch alle Suchanfragen zu Vermissten aus dem Zweiten Weltkrieg, die in Osteuropa oder der Sowjetunion vermutet wurden, an die Suchdienste der Schwestergesellschaften in den osteuropäischen Staaten und der damaligen Sowjetunion gerichtet. Diese konnten jedoch nicht alle Suchanfragen klären. Bei einer positiven Nachricht erhielten die Suchenden nur Angaben zum Sterbejahr der Vermissten, nicht jedoch das genaue Sterbedatum und auch nicht den Sterbeort.
Können Sie die Datenmenge beziffern?
Dziwoki: Es waren mehrere Millionen Datensätze. Davon allein ca. zwei Millionen Personalakten in Kopie zu deutschen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten in der Sowjetunion.
Gab es sonstige Veränderungen?
Dziwoki: Damals kamen auch viele Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland. In Folge der bewaffneten Konflikte auf dem Balkan gab es viele Vermisstenfälle. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat begonnen, exhumierte Kriegsopfer aus den Massengräbern auf dem Balkan anhand von DNA-Analysen und mithilfe sogenannter “Ante-Mortem-Daten" zu identifizieren. Der DRK-Suchdienst half bei der Sammlung der Ante-Mortem-Daten (Angaben zu den Umständen des Verschwindens, zu den körperlichen Merkmalen, Kleidung, medizinischen Besonderheiten der Vermissten) bei Angehörigen der Vermissten in Deutschland, die hier als Flüchtlinge aufgenommen wurden, um ihnen später Auskunft über das Schicksal ihrer Vermissten geben zu können. Die Sammlung von Ante-Mortem-Daten gab es davor noch nie beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes.
Im Vergleich zu anderen Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften ist der DRK-Suchdienst personell weltweit der größte. Warum ist es so wichtig, die Vermisstenschicksale aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu klären?
Dziwoki: Also, man muss sagen, das war nicht nur dem Roten Kreuz wichtig, sondern auch der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesrepublik fühlt sich den Opfern des Zweiten Weltkriegs verpflichtet. Und eine Opfergruppe sind die Kriegsgefangenen, die Zivilinternierten und die Vertriebenen. Die Bundesrepublik Deutschland finanziert natürlich auch die Arolsen Archives, früher “Internationaler Suchdienst” in Bad Arolsen, die sich allen Verfolgten des NS-Regimes widmen.
Und diese Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland hat dazu geführt, dass seit 1953 auch der DRK-Suchdienst mit seinen humanitären Aufgaben als Institution und damit seit über 70 Jahren vom Bund gefördert wird.
Weber: Die Frage ist ja, warum diese akribische Nachforschungsarbeit gemacht wird, bis heute. Sie wird für die Familien gemacht, die nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Nach den Genfer Abkommen hat jeder Mensch ein Recht zu wissen, was mit seinen Angehörigen passiert ist, „The right to know“, wie es international formuliert wird. Wir wissen, dass nahe Angehörige nicht damit abschließen können, wenn sie jemanden vermissen. Sie haben dann einen uneindeutigen Verlust, unter dem sie bis heute leiden, obwohl es fast 80 Jahre her ist.
Dziwoki: Ich möchte an dieser Stelle auf unser Projekt Zeitzeugengespräche hinweisen. Wir haben Menschen gefragt, was der Verlust und die Suche für sie bedeutet haben, und sie haben es uns vor der Kamera erzählt. Das ist sehr bewegend und zeigt genau das, was Frau Weber gerade beschrieben hat.
Weber: Da ist die Bundesrepublik ein großes Vorbild, denn das gilt natürlich auch für andere bewaffnete Konflikte rund um die Welt. Wir merken das, wenn wir etwa mit syrischen Familien zusammensitzen, deren Angehörige verschwunden sind, und es kaum Möglichkeiten gibt, Sucherfolge zu erzielen. Sie leiden sehr unter der Ungewissheit, aber es hilft ihnen zu wissen, dass das Rote Kreuz niemals aufgibt; wir bleiben dran.
Wo sehen Sie zukünftig die größten Herausforderungen für den Suchdienst?
Weber: Wir haben heute eine andere Zielgruppe als die Menschen aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Ratsuchenden sind vor allem Geflüchtete, und eine offensichtliche Herausforderung sind die Sprachbarrieren. Wir haben es mit sehr vielen Sprachen, sehr vielen Kulturen und sehr unterschiedlichen Menschen zu tun. Natürlich haben wir Sprachmittler, aber der persönliche Kontakt ist mit das Wichtigste, was der Suchdienst zu bieten hat, und das ist eine Herausforderung. Ich hoffe, dass wir zukünftig, vielleicht auch mit technischen Fortschritten, eine noch engere Beziehung zu den Menschen aufbauen können.
Warum ist der persönliche Kontakt so wichtig?
Vertrauen ist alles. Eine Suche setzt voraus, dass ich dem Suchdienst viele persönliche Daten und die meines Angehörigen anvertraue. Das ist für jemanden auf der Flucht und in einem fremden Land nicht so leicht. Und da ist die persönliche Beratung sehr wichtig.
Eine weitere Herausforderung ist die internationale Vernetzung. Der Suchdienst ist international und hat Schwestergesellschaften auf der ganzen Welt. Aber diese Stärke ist auch unsere Schwäche, denn wir sind nur so stark wie das Netzwerk. Wir geben unsere Suchanfragen weiter an die Schwestergesellschaften in den betroffenen Ländern, und wenn diese nur aus einer Person bestehen oder keine Auskünfte von ihren Behörden erhalten, hat das extreme Auswirkungen auf die Antworten, die wir den Familien hier geben können. Daher investieren wir viel Zeit in das Netzwerk und versuchen, unsere Schwestergesellschaften zu unterstützen.
Für Frau Dziwoki endet die Arbeit für den DRK-Suchdienst nun nach 28 Jahren. Wie sieht der Suchdienst der Zukunft, in weiteren 28 Jahren, aus?
Weber: (lacht) Das ist im Jahr 2052, wenn ich richtig rechne. Über 100 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und über 180 Jahre seit der Gründung der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Wir sind natürlich abhängig vom politischen Umfeld, von Umwelteinflüssen und technologischen Entwicklungen, die wir nicht alle voraussehen können. Aber ich bin mir sicher, dass der Suchdienst noch gebraucht werden wird, dass er wesentlich technologisierter sein wird. Wir werden sicherlich die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz nutzen und weiterhin die persönliche Begleitung sicherstellen.
Solange es bewaffnete Konflikte, Katastrophen und Fluchtbewegungen gibt, müssen wir damit rechnen, dass Familien auseinandergerissen werden, sich verlieren und durch Ländergrenzen getrennt werden.
Wie die Beratung von getrennten Familien, die in Deutschland schutzberechtigt sind, in 28 Jahren aussehen wird, wird von den Rahmenbedingungen abhängen. Familienzusammenführungen über Ländergrenzen hinweg sind staatliche Verfahren. Der Suchdienst wird auch in Zukunft alles daransetzen, Familien in diesen langwierigen, schwierigen Bemühungen professionell zur Seite zu stehen und ihr emotionales Leid während der Trennung von ihren Liebsten zu lindern.
Dziwoki: Ich denke auch, dass die technologische Entwicklung dazu führt, dass Menschen nicht in dem großen Ausmaß den gemeinsamen Kontakt verlieren und dass dieser so entsprechend nicht wiederhergestellt werden muss. Heute haben Soldaten in der Ukraine direkt und über ihr Mobiltelefon Kontakt zu ihren Familien. Das hat es im Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Aber der Suchdienst wird sicherlich für Familien wichtig sein, die alle Such-Möglichkeiten, die ihnen persönlich zur Verfügung stehen, ausgeschöpft, aber trotzdem ihre Angehörigen nicht gefunden haben. Auch mit Blick auf den bewaffneten Konflikt in der Ukraine und die Sorge vor einer Ausweitung möchte ich noch auf das Amtliche Auskunftsbüro (AAB) aufmerksam machen. Diese weitere Dauer-Aufgabe hat uns die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1966 übertragen: Das AAB ist gemäß den Genfer Abkommen dazu verpflichtet, Angaben zu Kriegsgefangenen und Zivilinternierten der gegnerischen Partei zu sammeln und an den Zentralen Suchdienst des IKRK zu übermitteln. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass Familien über den Verbleib und Gesundheitszustand der inhaftierten Angehörigen informiert werden. Das AAB in Deutschland würde erst aktiviert, sollte die Bundesrepublik Deutschland Teil eines bewaffneten Konflikts werden. Wir sind zwar auf den Ernstfall vorbereitet, hoffen aber, dass dieser nie eintreten wird.
Was bedeutet eine stetige technische Vernetzung der Menschen untereinander zukünftig für den Suchdienst?
Weber: Diese Vernetzung ist ja heute schon da. Fast jeder auf der Welt hat ein Handy. Aber wir sehen trotzdem, dass die Zahl der Vermissten steigt und nicht abnimmt. Vielleicht, weil wir mehr Menschen auf der Flucht haben als je zuvor. Wir merken, dass bei uns keine Fälle landen, die vielleicht ein oder zwei Wochen alt sind, sondern zu uns kommen die längerfristigen Fälle, wo Familien schon viel selbst versucht haben. Wir sehen uns da immer mehr als Partner und Fürsprecher der Familien. Wir begleiten sie in ihrer Suche und unterstützen sie auf ihrem Weg. Es ist sehr belastend, wenn ein Soldat nach Hause schreibt: „Ich bin jetzt hier am Checkpoint“, und das ist dann die letzte Nachricht von ihm. Da verstehen wir uns als Begleiter der Familien und möchten helfen, ihr Leid zu lindern.
Interview: Fredrik Barkenhammar