Blick nach außen
Uneindeutiger Verlust – Suchende Angehörige im emotionalen Schwebezustand
Tausende Menschen in Deutschland leiden unter quälender Ungewissheit. Auf der Flucht nach Europa sind ihre Familienmitglieder spurlos verschwunden und sie wissen nicht, was mit ihnen passiert ist. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren Millionen Familien in Europa gleichermaßen betroffen, deren Angehörige oft bis heute als Kriegsvermisste gelten. Auch heute leiden viele Geflüchtete darunter, dass sie nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist – zuhause, auf den Migrationsrouten, auf dem Mittelmeer.
Stefania Asimakopoulou ist Suchdienst-Mitarbeiterin des Französischen Roten Kreuzes und hat gerade ihre Masterarbeit zum Thema „Uneindeutiger Verlust“ geschrieben. „Menschen, die Angehörige vermissen, brauchen Klarheit. Die brauchen wir alle, eigentlich. Wenn jemand vermisst wird, ist genau Klarheit das, was fehlt“, sagt sie.
Wer einen Menschen vermisst, ist ständig hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Hoffnung, dass die gesuchte Person vielleicht auftaucht, oder Verzweiflung, dass das suchende Familienmitglied nie erfahren wird, was mit dem geliebten Angehörigen passiert ist. Stefania Asimakopoulou vergleicht es mit einem Todesfall:
„Wenn ein Mensch stirbt, haben wir gesellschaftlich Strategien, Rituale und eine Sprache entwickelt, um damit umzugehen, um irgendwann weiterleben zu können. Es gibt eine Beerdigung, Gedenkgottesdienste, Briefe und Nachrufe. Den Ehemann oder die Ehefrau nennen wir Witwer oder Witwe. Man kann trauern und das hilft einem, mit dem Verlust umzugehen.“
Beim uneindeutigem Verlust sei das anders, sagt sie.
„Die Klarheit fehlt. Wir haben keinen Namen für jemanden, der einen lieben Menschen vermisst. Es gibt keine Rituale, die Menschen helfen, mit der damit verbundenen Ungewissheit umzugehen. Das treibt Menschen oftmals in eine Isolation und sogar Depression.“
Um das Phänomen des uneindeutigen Verlusts besser zu veranschaulichen, hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) den Film „The Waiting Room“ konzipiert, den der DRK-Suchdienst in deutscher Fassung veröffentlicht hat. Dieser zeigt die Leere und das große Leid von Familien, die nichts über den Verbleib eines vermissten Angehörigen wissen, und wie die Suchdienstarbeit ihnen hilft.
Stefania Asimakopoulou erklärt, dass nicht nur Depression eine häufige psychische Reaktion der Betroffenen ist: „Es gibt auch viel Wut. Wut aufgrund von Schuldgefühlen, z.B., weil man sich vorwirft, nicht genug getan zu haben, um den Verlust zu verhindern. Denken Sie an die im Mittelmeer Vermissten, die vielleicht auf der Flucht zu ihren Familien in Europa waren. Oder Wut auf die Behörden, weil man sich von den Zuständigen dort nicht verstanden fühlt.“
Das Rote Kreuz kann in diesem Zusammenhang eine große Stütze der Betroffenen sein, indem es Räume schafft, in denen Menschen über ihre Situation sprechen können und ein offenes Ohr finden.
„Allein die Suchdienst-Beratungen sind sehr viel wert. Es ist eine enorme psychosoziale Unterstützung, dass es ein offenes Ohr gibt, jemand hört sich meine Geschichte an. Wir beginnen ja als Suchdienst Nachforschungen und das ist einerseits offensichtlich wichtig, um die Vermissten zu finden. Aber es hilft auch den Suchenden, mit ihrer Situation besser zurecht zu kommen.“
„Wir probieren dieses Jahr auch etwas Neues: Rund um den Internationalen Tag der Vermissten am 30. August laden wir suchende Angehörige in die regionalen Rotkreuz-Verbände in Frankreich ein. Da gibt es vielleicht ein gemeinsames Essen, um auf diese Weise ein Netzwerk unter suchenden Angehörigen zu schaffen. Oder wir pflanzen Bäume für die Vermissten oder hängen bunte Bänder in Bäumen auf, um so an sie zu erinnern. So bemühen wir uns, Rituale zu schaffen, die diesen Menschen dabei helfen sollen, mit dem uneindeutigen Verlust umzugehen.“
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften sowie das Französische Rote Kreuz bieten Online-Angebote, die für die Beratung von Betroffenen hilfreich sein können:
https://pscentre.org/resource/supporting-people-with-missing-family-members/
https://formation-benevoles.croix-rouge.fr/perte_ambigue_EN/co/ambiguousLoss.html