Die Geschichte lebt in den Familien fort.

Anne Schneller fand im Nachlass ihrer Großmutter ein Stück Pappe, auf dem handschriftlich verschiedene Zugzeiten und -stationen notiert waren. Diese standen im Zusammenhang mit der Verschleppung der damals 51-jährigen Frau in den russischen Ural. Die Großmutter der 63-jährigen Anne wollte oder konnte zeitlebens nie über die Erlebnisse während der Zeit im sowjetischen Gewahrsam sprechen. Mit ihrem Schweigen blieb dieses Kapitel sowohl für Annes Eltern als auch für Anne selbst bis zum Tod ihrer Großmutter ein familiäres Tabuthema. So bat Anne den DRK-Suchdienst, mit genaueren Informationen zu der Gefangenschaft Licht ins Dunkel diesen bislang unangetasteten Abschnitt ihrer Familiengeschichte zu bringen.

Die Unterlagen aus den russischen Archiven, die ihr der DRK-Suchdienst geschickt hat, warten noch auf Annes Schreibtisch darauf, übersetzt zu werden. Unabhängig davon beschäftigt sich Anne gedanklich stark mit dem Thema und hinterfragt dabei auch familiäre Gepflogenheiten. Sie beginnt, darüber zu reflektieren, inwieweit erlebte Traumata sich auch auf die Nachkommen und folgende Generationen auswirken und “vererbt” werden.

Der gellende Schrei ihrer sterbenden Großmutter erscheint Anne als ein Zeichen dafür, dass sich im Augenblick ihres Todes endlich all das tief in ihr verschlossene seelische Leid der Vergangenheit gelöst hat. Außer ihrem eigenen schweren Schicksal hatte sie sowohl ihren Mann als auch zwei von drei Söhnen im Krieg verloren.

Diese schmerzlichen großmütterlichen Erfahrungen sind aus Annes Sicht auch ursächlich dafür, dass weder sie selbst noch ihr Bruder oder ihre Cousins eigene Kinder haben.