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Endlich wieder vereint - nach über sechs Jahren der Trennung

Elham M. ist 21 Jahre alt und weiß ganz genau, wie lange sie von ihrem Vater getrennt war – sechs Jahre und zwei Monate. Von 2014 bis 2020, zwischen ihrem 15. und 21. Lebensjahr. Auf ihrem Mobiltelefon hat die junge syrische Frau eine Zeitlinie, die verdeutlicht, wie lange es dauerte, bis sich die Familie endlich wieder in die Arme schließen konnte.

Als ihr Vater, Khaled M., Bauingenieur aus Damaskus, im Oktober 2020 endlich nach Deutschland einreisen durfte, besaßen Elham, ihre Mutter und die drei Geschwister schon seit über fünf Jahren den Flüchtlingsstatus in Deutschland. Aber Khaled M. war es lange unmöglich, zu seiner Frau und den gemeinsamen Kindern zu kommen. Der DRK-Suchdienst hat die Familie seit 2017 durch emotionale Tiefen und einen Dschungel der Bürokratien unterschiedlicher Staaten begleitet. Ihre Hoffnung darauf, als Familie vereint zu leben, wurde dabei zunächst immer wieder enttäuscht. Aber Aufgeben war für alle Beteiligten keine Option!

Ein langer, traumatischer Fluchtweg

Die ganze Familie verlässt Syrien im Jahr 2011, bereits kurz nach Beginn des Konflikts im Land. Sie fliehen zunächst über Libanon und Ägypten nach Libyen, wohin der Ehemann und Vater zuvor geflohen war und wo er schon früher als Bauingenieur gearbeitet hatte. Die prekären und lebensgefährlichen Umstände für die Flüchtlingsfamilie in Libyen zwingen sie von dort aus erneut zur Flucht. Zweieinhalb Jahre später sitzen sie in einem, wie sich später herausstellt, maroden und überfüllten Boot, das sie über das Mittelmeer bringt. Die Überfahrt nach Italien ist teuer, so dass der Vater zunächst allein in Libyen zurückbleiben muss, nur für eine kurze Zeit der Trennung, wie sie alle damals glaubten.

Elham M. spricht nach sechs Jahren in Deutschland ausgezeichnet Deutsch, aber ihre Stimme stockt, wenn sie von ihrer Flucht als damals 14-Jährige erzählt. Sie macht Pausen, um die Tränen zurückzuhalten, als sie von der gemeinsamen Überfahrt spricht.

"Sie haben uns zuerst in ein Haus nah der Küste gebracht", erinnert sich Elham M. "Dort haben meine Mutter, ich und meine Geschwister gewartet, über einen Monat waren wir in dem Haus mit vielen anderen Flüchtlingen. Dann auf einmal ging es los. In der Nacht wurden wir zum Strand gebracht, das Wasser ging mir bis zum Bauchnabel, es war dunkel, aber wir mussten zum Boot raus. Zuerst wurden wir auf ein kleines Boot gebracht und bestiegen später auf See auf ein größeres, voller Menschen."

Drei Tage dauert die Fahrt über das Mittelmeer, eine furchtbare Erinnerung für die Mutter und ihre Kinder, heute Teenager und älter, sowie ihren Vater, der weit weg ist. Als Schiffbrüchige in Seenot werden sie von der Deutschen Marine aufgenommen. Sie gelangen nach Italien und mit Unterstützung des Italienischen Roten Kreuzes in ein Flüchtlingslager. Von dort aus rufen sie den Vater in Libyen an.

"Mein Vater zeigt seine Gefühle eigentlich nicht so", sagt Elham M. "Aber als mein Bruder ihn anrief und ihm sagte, dass wir sicher in Italien sind, da hat er geweint."

Ankommen in Deutschland

Über Österreich erreicht die Familie per Zug schließlich München und von dort aus die Erstaufnahmestelle in Neumünster. Sie können eine kleine Wohnung in Schleswig beziehen, “Es war wie ein Traum für uns”, erinnert sich Elham M. “Erst war alles fremd, aber wir hatten endlich Sicherheit,” ergänzt ihre Mutter. 2015 erhält die Familie den Flüchtlingsstatus in Deutschland.

Die Mutter und ihre Kinder nehmen das Leben in Deutschland auf und knüpfen Kontakte, über einen ehrenamtlichen Helfer in der Schule auch zum DRK-Suchdienst. Einmal in der Woche, später dann täglich, verabreden sie sich zum gemeinsamen Telefonat mit ihrem Ehemann und Vater. Dieser versucht, im Rahmen der Familienzusammenführung nachzukommen, aber sein Pass, den er für den Familiennachzug benötigt, ist zwischenzeitlich abgelaufen. Als Flüchtling wagt er es nicht, zurück nach Syrien zu reisen, um einen neuen Pass zu beantragen. In dem anschließenden langjährigen Verfahren zur Familienzusammenführung berät der DRK-Suchdienst und zeigt der Familie Wege auf, wie sie die rechtlichen und tatsächlichen Anforderungen erfüllen kann.

In Libyen gibt es zu dieser Zeit keine deutsche Auslandsvertretung, die Visaverfahren im Rahmen des Familiennachzugs bearbeitet. Die daher zuständige Deutsche Botschaft im Nachbarland Tunesien könnte die Unterlagen annehmen und dort könnte der Mann ein Visum für Deutschland beantragen. Jedoch verweigert Tunesien generell Flüchtlingen aus Libyen faktisch die Einreise nach Tunesien, auch wenn diese nachweisen können, dass sie einen Vorsprachetermin bei der deutschen Auslandsvertretung wahrnehmen müssen. Die Deutsche Botschaft vergibt dafür formal keine Termine, aber die tunesische Grenze dürfen zwecks Antragstellung nur Personen mit bestätigtem Termin passieren. Was tun?

Familiennachzug – unmöglich?

Lange versucht der DRK-Suchdienst, den schier unüberwindbaren Knoten zu lösen. Ist eine Einreise nach Tunesien eventuell doch möglich? Oder kann die Antragstellung auf Familiennachzug bei der deutschen Auslandsvertretung in einem anderen Land erfolgen? Wo könnte der Mann den benötigten Pass erhalten? Aber alles erscheint aussichtslos.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) unterhält ein Büro in Tunesien und die dortigen Mitarbeitenden können die Unterlagen über die Diplomatenpost annehmen. So werden die notwendigen Dokumente für die Familienzusammenführung von Deutschland über Genf nach Tunis gebracht. Von dort bringt ein IKRK-Mitarbeiter sie zur libyschen Grenze, wo Elham M.s Vater wartet und sie im März 2019 entgegennehmen kann.

Doch ein weiteres Problem stellt sich: Es fehlt ein aktuell gültiger syrischer Pass, um das Visum zu beantragen. Die tunesischen Behörden verweigern weiter die Einreise nach Tunis. Die Beantragung eines Visums bei der Deutschen Botschaft in Tunesien erscheint unmöglich.

Khaled M. entscheidet sich daraufhin, von Libyen in den Sudan zu reisen. Seine Schwester beantragt in Syrien einen neuen Pass für ihn, den er bei der syrischen Auslandsvertretung im Sudan abholen kann. Da die deutsche Botschaft im Sudan für den Visumsantrag nicht zuständig ist, da sich Khaled M. als Antragsteller noch keine sechs Monate im Sudan aufhält, reist er, sobald er den Pass erhalten hat, in den Libanon und beantragt in der libanesischen Hauptstadt Beirut bei der deutschen Auslandsvertretung ein Visum.

Jetzt -endlich- gelingt es. Im März 2020 hält Khaled M. sein Visum in den Händen. Zum zweiten Mal freut sich Elham M. darauf, ihren Vater bald wieder umarmen zu können.

Aber im März 2020 türmen sich mit der Corona-Pandemie neue, unüberwindbare Hürden auf: Deutschland und fast alle anderen Staaten führen strenge Beschränkungen im Reiseverkehr ein, die erst im Sommer 2020 wieder gelockert werden. In der Zwischenzeit ist aber das Visum des Vaters abgelaufen und es bedarf eines neuen Visums.

Als wäre das nicht genug, explodiert im August 2020 eine Lagerhalle im Hafen von Beirut. Die Deutsche Botschaft vor Ort wird daraufhin geschlossen und damit zerschlägt sich auch die Hoffnung, dass Elham M., ihre Mutter und die Geschwister ihren Vater und Ehemann bald wiedersehen können, zum dritten Mal. Sobald es wieder möglich ist, beantragt ihr Vater das neue Visum.

Endlich: Das Visum ist da!

Im Oktober 2020 kann Khaled M. endlich ein Flugzeug nach Deutschland besteigen, seinen Pass mit einem Visum für den Familiennachzug nach Deutschland in der Tasche.

"Ich habe es nicht geglaubt", sagt Elham M. "Ich habe es mir nicht erlaubt zu glauben. Wir wurden so oft enttäuscht." Auch die DRK-Suchdienst-Beraterin, die den Fall über all die Jahre begleitet hat, kann es erst glauben, als sie den Vater nach seiner Ankunft am Flughafen wirklich sieht. Elham M.s Stimme stockt wieder, wenn sie an diesen unwirklichen Moment zurückdenkt. "Was kann ich sagen? Wir waren alle endlich wieder zusammen, eine ganze Familie. Ich war noch nie so erleichtert."

Heute lebt die Familie in Schleswig-Holstein, die beiden jüngeren Söhne gehen noch zur Schule; Elham M. und ihr zwei Jahre älterer Bruder machen eine Berufsausbildung im medizinischen Bereich.