Reportage

Der Koffer aus dem Mauerstreifen

In den 1980er Jahren findet Bahnmitarbeiter Hans-Henning Günther einen Koffer im Ost-Berliner Bahnhof Gesundbrunnen, mitten auf dem Mauerstreifen. Der Bahnhof ist stillgelegt und nicht mehr in Betrieb. Dort lag der Koffer vermutlich seit 1961 - dem Jahr, in dem die innerdeutsche Grenze geschlossen und die Berliner Mauer errichtet wurde.

Hans-Henning Günther ist zwar West-Berliner, arbeitete jedoch als Bauleiter und Kartograf für die ostdeutsche Reichsbahn, die auch in West-Berlin verkehrte. Er behält den Koffer und übergab ihn fast 30 Jahre später an die junge Journalistin Frédérique Veith vom SWR mit den Worten „Ich kann den Besitzer nicht finden, aber Sie können ihn vielleicht finden und den Nachkommen den Koffer zurückgeben.“ 

SWR2 beschreibt in einem Podcast mit 10 Folgen, wie sich Friederike Veit und eine Kollegin auf die Suche nach den vorherigen Besitzern des Koffers machen. Auch der DRK-Suchdienst spielt dabei eine Rolle. 

Wir nutzen die Suche nach den Kofferbesitzern, um auch die Rolle des DRK-Suchdienstes in der Zeit des Kalten Krieges zu beschreiben. Im damals geteilten Berlin (und in den jeweiligen Nationalen Rotkreuz-Gesellschaften von BRD und DDR), war das Thema Familienzusammenführung für viele getrennte Angehörige sowohl im Ost- als auch im Westteil der Stadt ein großes Anliegen. Unmittelbar nach dem Mauerbau im August 1961 waren viele deutsche Familien zunächst getrennt. Einige Berliner Kinder, die noch Sommerferien hatten, verbrachten diese bei Verwandten auf dem Land, und sie kamen dann nicht zurück nach West-Berlin. Einen Monat nach dem Mauerbau lagen 1.200 Anträge auf Familienzusammenführung aus humanitären Gründen vor, Ende 1961 waren es 4.000 und Mitte der 1960er Jahre bereits 75.000 Fälle.

Der Koffer aus dem Mauerstreifen, ein Pappkoffer mit zwei Schnallen und mit weißem Stoff bezogen, enthält eine Reihe persönlicher Dokumente von einem „Günther S.“ und seiner Familie:

•    eine Geburtsurkunde
•    ein Familienbuch
•    einen Rentenbescheid
•    einen Konfirmationsschein
•    eine Heiratsurkunde
•    einen Versicherungsausweis
•    Passierscheine für Grenzübergänge zwischen Ost und West
•    verschiedene Einzahlungsbelege
•    einen Strafzettel über 1 Reichsmark und 20 Pfennige
•    Familienfotos in schwarz-weiß

Schnell wird klar, dass der Koffer wahrscheinlich jemand gehört hat, der von Ost- nach West-Berlin geflohen ist oder eine Flucht vorbereitet hat. Vielleicht schon vor dem Mauerbau, als die innerdeutsche Grenze noch einigermaßen offen und der Bahnhof Gesundbrunnen noch ein herkömmlicher Bahnhof war.

Eine der ersten Anlaufstellen der Journalistin Veith auf der Suche nach den ursprünglichen Besitzern des Koffers ist der DRK-Suchdienst in Berlin.

Im geteilten Deutschland spielte der Suchdienst durchaus eine wichtige Rolle. Die beiden Rotkreuz-Gesellschaften - das DRK der BRD und das DRK der DDR bzw. der SBZ (Sowjetischen Besatzungszone) - haben nach Kriegsende punktuell immer wieder zusammengearbeitet. In den frühen Nachkriegsjahren war zunächst die Befragung ehemaliger Kriegsgefangener eine wichtige Aufgabe des Suchdienstes, um Familienangehörigen von Noch-Inhaftierten in der Sowjetunion Auskunft geben zu können. Die Befragung der ehemaligen Kriegsgefangenen, die in das Gebiet der ehem. DDR entlassen wurden, erfolgte erst nach der Wiedervereinigung.

"Eine Zusammenarbeit der Rotkreuz-Gesellschaften "Ost" und "West" gab es durchaus in der Nachkriegszeit, auch wenn sie manchmal eine Herausforderung war", sagt Christoph Raneberg*, DRK-Suchdienst-Standort München.

"Aus alten Akten und Vermerken geht hervor, dass offizielle Kontakte mit dem DRK der DDR als eine Art Bestätigung der DDR als eigener Staat gesehen werden konnte, und das war nicht immer im Sinne der Bundesrepublik. Daher war oft Vorsicht und Diskretion angesagt."

Im Osten war das Rote Kreuz der DDR wesentlich enger an den Staat gebunden als es beim DRK in der Bundesrepublik der Fall war. Das DRK der DDR hat aber „in nicht wenigen Fällen“, wie es in einer Pressemitteilung des DRK der BRD vom Dezember 1961 heißt, eine Familienzusammenführung befürwortet.

Im Jahr 2019 kommen nun die beiden SWR-Journalistinnen mit dem Koffer aus dem Mauerstreifen ins Büro von Judith Klimin, Leiterin Suchdienst im DRK-Landesverband Berliner Rotes Kreuz. Der Kalte Krieg ist längst vorbei und Ost/West-Schicksale gehören nicht mehr zum Alltag des Suchdienstes. Außerdem sind die Journalistinnen keine Angehörigen und somit können sie keine offizielle Suchanfrage stellen. Aber Judith Klimin gibt ihnen einige gute Tipps mit auf den Weg, um das Mysterium des Koffers und seiner früheren Besitzer zu lösen.

„Vielleicht war er ein Fluchthelfer“, schlägt Judith Klimin vor. Von den Dokumenten im Koffer ist keines jünger als 1955. Aber auch in den 1950er Jahren war es für DDR-Bürger nicht möglich, ohne Genehmigung das Land zu verlassen, selbst als noch keine Mauer stand. 

Wenn der Kofferbesitzer nicht mehr am Leben sei, so Judith Klimin, und die Journalistinnen herausfänden, wo er gestorben sei, könnten sie sich ans Standesamt des Sterbeorts wenden. Dort erhielte man in der Regel Auskunft darüber, wo jemand bestattet sei. Über den Friedhof und ein Bestattungsinstitut könne man vielleicht Angehörige ermitteln.

Die Journalistinnen suchen weiter und in der Tat finden sie Angehörige von Günther S. in Ulm, in Baden-Württemberg. Es stellt sich heraus, dass Günther S. zusammen mit seiner gesamten Familie - Frau, zwei Töchter und seinem Vater - schon in den 1950er Jahren aus der DDR floh. Günther S. und sein Vater reisten vor, um Wohnung und Arbeit zu organisieren, seine Frau und die beiden Kinder kamen nach. In Ulm gab es eine Sammelstelle für Flüchtlinge aus der DDR.

Als die Frau dann mit dem Koffer über die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin reisen sollte, bekam sie Angst. Wer Familienbuch, Geburtsurkunden, Rentenbescheid und andere persönliche Gegenstände mit sich führt, hat offensichtlich nicht vor, zurückzukehren. So ließ sie den Koffer einfach im Abteil stehen und wechselte den Waggon. Sie reiste weiter nach Baden-Württemberg, wo die Familie bis heute lebt. Der Koffer: Aufbewahrt in der Fundstelle der Reichsbahn im Bahnhof Gesundbrunnen. 

Später, als der Bahnhof geschlossen und zum Geisterbahnhof wurde, blieb der Koffer einfach stehen. Bis er von dem Reichsbahn-Mitarbeiter gefunden wurde. 
Mit der politischen Wiedervereinigung erfüllen im November 1990 auch die beiden Rotkreuz-Gesellschaften der BRD und der DDR den DRK-Einigungsvertrag und sind seitdem eine von derzeit 192 Nationalen Rotkreuz-Gesellschaften weltweit.

Günther S. ist mittlerweile verstorben. Aber seine Kinder leben noch immer in Ulm. In der letzten Folge bringt die Journalistin tatsächlich den Koffer von Berlin nach Ulm, um ihn den Angehörigen zu übergeben und mit ihnen zu sprechen.


Die gesamte Dokumentation hören Sie hier.
www.swr.de/swr2/doku-und-feature/der-koffer-aus-dem-mauerstreifen-podcast-100.html

*Christoph Raneberg war bis Ende Oktober 2020 Fachbereichsleiter 
Nachforschungen, Schicksalsklärung Zweiter Weltkrieg am DRK-Suchdienst-Standort München. 

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