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Reportage

Annegret Möller findet ihren Onkel – und ihren Frieden

In Frankfurt (Oder) gibt es mehrere Gedenkstätten, wo an die Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnert wird, die im dortigen Kriegsgefangenen- und Übergangslager verstorben sind. Annegret Möller war vor Ort und weiß jetzt, dass auch ihr Onkel „Kalli“ hier inhaftiert und gestorben ist. Foto: Privat
In Frankfurt (Oder) gibt es mehrere Gedenkstätten, wo an die Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnert wird, die im dortigen Kriegsgefangenen- und Übergangslager verstorben sind. Annegret Möller war vor Ort und weiß jetzt, dass auch ihr Onkel „Kalli“ hier inhaftiert und gestorben ist. Foto: Privat

„Ich habe meinen Onkel nie kennengelernt, aber sein Schicksal zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Familiengeschichte“, sagt Annegret Möller, 75 Jahre, aus Hamburg. „Immer wenn über ihn gesprochen wurde, war es mit einem Seufzer, eine Traurigkeit legte sich in die Luft. Als ich als Kind vom „Kar-Freitag“ hörte, dachte ich, er hat einen eigenen Feiertag: „Karl-Freitag“.“

Wie so viele, die in den 1940er Jahren geboren sind, wuchs Annegret Möller als Einzelkind in einer Familie auf, die vom Zweiten Weltkrieg geprägt war. Ihr Vater und seine Brüder waren als Soldaten im Krieg und kehrten zu Kriegsende nach Hause zurück. Onkel „Kalli“ mütterlicherseits blieb jedoch vermisst.

„Meine Oma starb 1945 und meine Mutter, als ich 10 Jahre alt war. Ich ging als Kind daher oft mit meinem Großvater und später auch als Erwachsene auf den Friedhof Bornkamp in Hamburg-Altona. Vom Bruder meiner Mutter, also Kalli, gab es nur einen Gedenkstein mit der Aufschrift „Vermisst in Frankfurt an der Oder.“

Vom Krieg erzählten weder Vater noch Großvater viel. Letzterer hatte seine Frau und seine Tochter zu Grabe tragen müssen, seinSohn war vermisst.

„Mein Großvater muss seine Familie als ausgelöscht empfunden haben. Nur ich, ein kleines Mädchen, war noch da. Sagen wir mal so: Auf emotionalem Gebiet war es schwierig. Ich glaube, die Trauer war zu groß, um darüber zu sprechen.“

Aber Annegret Möller ließ das ungeklärte Schicksal des verschwundenen Onkels nie richtig los. Ihr Großvater hatte nach Kriegsende an den DRK-Suchdienst geschrieben, aber es gab keine weiteren Informationen, als dass Karl Meyer vermisst war.

„Wenn etwas unausgesprochen ist, wenn es ungeklärt ist, dann gräbt es weiter im Hintergrund. Es lässt einen nicht los, tauchte bei Friedhofsbesuchen oder am Karfreitag immer wieder auf“, sagt Annagret Möller heute.

Als Annegret Möller erwachsen ist und selbst Kinder und Enkelkinder hat, beginnt sie erneut, über ihre Familiengeschichte zu recherchieren und diese niederzuschreiben.

„Ich wandte mich irgendwann an den Suchdienst, das war zu Corona-Zeiten, schrieb einen Brief. Es hat ein bisschen gedauert, aber nach gut einem halben Jahr bekam ich einen dicken Brief mit Unterlagen“, erzählt sie.

Mit dem Ende der damaligen Sowjetunion konnte der DRK-Suchdienst nach neue russische Archivquellen sichten und erhielt Zugang zu bislang fehlenden Daten aus vorwiegend in Moskau lagernden Gefangenen- und Interniertenakten.  Mit Hilfe dieser Informationen konnte der DRK-Suchdienst von 1992 bis heute ca. 265.000 weitere Vermisstenschicksale klären. So schreibt er im Brief an Annegret Möller:

„Aus den auf Russisch abgefassten Unterlagen – Gefangenenakte und Karteikarte – geht hervor, dass Karl Meyer am 02.05.1945 in Berlin in sowjetische Gefangenschaft kam. […] Laut weiteren Aufzeichnungen wurde Ihr Onkel am 11.06.1946 in das Lager Nr. 69 verlegt. Karl Meyer ist am 23.06.1946 im Evakuierungshospital Nr. 1762 infolge Herzinsuffizienz verstorben. […] Karl Meyer wurde auf dem damals zugehörigen Friedhof, Quadrat 1, Grab Nr. 47 bestattet.“

Als die Pandemie-Bestimmungen es zulassen, steigt Annegret Möller in den Zug ab Hamburg und fährt vier Stunden nach Frankfurt (Oder). Zuvor hatte ihr ein Nachbar Kontakt zum „Historischen Verein“ vor Ort vermittelt und einige Mitglieder führen sie dann dort durch die Stadt.

Auf dem Friedhof gibt es auch eine Kriegsgräberstätte: Auf etwa 16 Messingtafeln stehen die Namen von mehr als 7600 Kriegsopfern und in Gefangenschaft Verstorbenen. Dreimal findet sie dort den Namen “Karl Meyer”. Bei zwei der Verstorbenen passen Geburts- und Sterbedatum nicht zu Annegret Möllers Onkel. Beim dritten fehlen diese Daten. Da ist Annegret Möller sich sicher: Das ist ihr Onkel.

Begraben liegt er hier allerdings nicht. Der damalige Friedhof, wo der Onkel tatsächlich bestattet wurde und der im Schreiben des DRK-Suchdienstes erwähnt ist, nennt sich „Nuhnenfriedhof“ und befindet sich heute auf privatem Gelände, ein Erinnerungsort zu Ehren der dort begrabenen damaligen Kriegsheimkehrer und Kriegsgefangenen.

„Das war so ein schöner Ort“, sagt Annegret Möller bewegt. „Ein großes, etwas verwildertes Gelände, Rasen, große Bäume, kein perfekter englischer Garten, aber schön, ein fast verwunschener Ort. Und ich dachte: Ja, hier kann Kalli gut seine letzte Ruhe finden.“

Für Annegret Möller war der Besuch in Frankfurt (Oder) ein Abschluss und ein Kennenlernen zugleich.

„Es kommt mir vor, als hätte ich eine Aufgabe zu Ende gebracht, die mein Opa mir auferlegte: ein wenig Licht in Kallis Schicksal zu bringen und vor allem, seine Grabstätte zu besuchen. Es ist gut, einen solchen Ort zu kennen und so, als ob dort eine Verbindung zwischen uns hergestellt worden wäre.“

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