Reportage
Queere Geschichte - Klärung des Schicksals von Dora Richter (*1892)
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa vor rund 80 Jahren widmet sich der DRK-Suchdienst der Aufgabe, die Schicksale von Kriegsvermissten zu klären. Seinerzeit gab es Nachforschungsbedarf in einem bis dahin unbekannten Ausmaß: Millionen Menschen waren nach Flucht und Vertreibung auf der Suche nach ihren vermissten Familienangehörigen – auch in Deutschland.
Die seit 1945 entstandenen örtlichen Suchkarteien, später zusammengefasst in den Zonenzentralen Hamburg und München, wurden im Jahr 1950 zur Zentralen Namenskartei (ZNK) vereint. Im Laufe der Jahrzehnte wuchs die Kartei; eine Reihe wichtiger Spezialkarteien wurde ergänzt. Heute kann die ZNK mit ca. 50 Millionen (digitalisierten) Karteikarten Auskunft über den Verbleib von über 20 Millionen Menschen geben. Nach wie vor klärt der DRK-Suchdienst damit die Vermisstenschicksale aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. So auch im Fall Dora Richter.
Clara Hartmann, widmet ihre Freizeit dem Aufbau der Lili-Elbe-Bibliothek und recherchiert dabei die persönlichen Hintergründe von bedeutenden Trans-Personen. Mit einer Bitte um Informationen über den Verbleib von Dora Richter wendet sie sich an den DRK-Suchdienst. Die am 16. April 1892 in Seifen (heute Ryžovna in Tschechien) als „Rudolf“ geborene Richter gilt als erste namentlich bekannte Person, bei der eine erfolgreiche geschlechtsangleichende Operation durchgeführt werden konnte. Damit spielt die spätere „Dora“ Richter auch eine wichtige Rolle für die queere Geschichte.
Über ihre Kindheit ist wenig bekannt. Im Jahr 1916 wurde Richter zum Kriegsdienst eingezogen, jedoch schon nach zwei Wochen wieder aus der Armee entlassen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zog der damals junge Mann vorübergehend in seinen Heimatort zurück, meldete sich aber bald im Berliner Institut für Sexualwissenschaft und lebte dort wohl ab Mai 1923 als Hausmädchen und Küchenhilfe.
Die chirurgischen Eingriffe, denen Richter sich daraufhin unterzog, erstreckten sich über einen Zeitraum von 1923 bis 1931. Im Mai 1933 wurde das Institut für Sexualwissenschaft mit dem zugehörigen Archiv von den Nationalsozialisten zerstört. Nach Unterlagen der Volkszählung im Deutschen Reich aus dem Jahr 1939 lebte Dora Richter Ende der 1930er Jahre wieder in ihrem Geburtsort Seifen. Im Jahr 1934 bewilligte der damalige Landespräsident Prag ihren Antrag auf Namensänderung vom 26. Februar 1934 und ihr Name wurde offiziell in „Dora Rudolfine Richter“ (tschechisch: Dora Rudolfa Richterová) geändert. Ihr weiteres Schicksal blieb der Forschung aber zunächst noch unbekannt. Hatte sie den Krieg überlebt?
Es gelingt den Mitarbeitenden des DRK-Suchdienstes, das Schicksal von Dora Richter zu klären. Im Zuge der Recherche in der ZNK finden sich Unterlagen, die ihr Leben nach 1945 belegen: ein Vertriebenenausweis, ausgestellt im Jahr 1946 in Hilpoltstein, der ihre Flucht aus Seifen im Februar 1945 nachzeichnet, sowie eine ebenfalls in Hilpoltstein ausgestellte Flüchtlingskarte.
Hinweisen aus den Unterlagen zufolge war Dora Richter im Landkreis Hilpoltstein ansässig, so dass der DRK-Suchdienst sich mit der Bitte um weitere Auskünfte an das Einwohnermeldeamt Allersberg wandte. Das Ergebnis der Nachforschungen erreichte den DRK-Suchdienst umgehend und ist kurz, aber aussagekräftig: Die gesuchte Person sei im Jahr 1966 in Allersberg verstorben.
Der DRK-Suchdienst hat somit dazu beitragen, eine Lücke in der Biographie einer Person der Zeitgeschichte zu schließen. Neben Familienangehörigen haben u.a. auch Personen aus Wissenschaft und Forschung die Möglichkeit, sich mit einer Anfrage zur Schicksalsklärung an den DRK-Suchdienst zu wenden.
Weitere Informationen zur Schicksalsklärung Zweiter Weltkrieg: Projekt Zeitzeugengespräche.
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